Im Jahr 1959 ereignete sich am Djatlow-Pass in Russland eines der berühmtesten Expeditions-Mysterien der jüngeren Geschichte. In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar sterben neun russische Skitourengänger unter bis heute ungeklärten Umständen am nordöstlichen Hang des Berges Cholat Sjachl
Lawinen, Wetterumschwünge, Kälteeinbrüche, Steinschlag – Unglücke in Bergregionen gibt es viele. Eine Tragödie aus Russland allerdings beschäftigt die Öffentlichkeit selbst nach mehr als 60 Jahren immer wieder. Neun junge Skitourengänger und Bergwandererinnen sterben – bis heute kennt niemand den Grund. Innere Verletzungen, Erfrierungen mangels Kleidung, Schädelfrakturen und radioaktive Strahlung machen das Unglück am Djatlow-Pass im Ural-Gebirge zu einem der größten Rätsel in der Bergsteiger-Geschichte.
Expedition führt Skitourengänger 350 Kilometer durch den Schnee
Als die gemischte Gruppe um den erst 23 Jahre alten, aber erfahrenen Skiwanderer Igor Djatlow mit dem Zug in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg, eintrifft, ist die Stimmung fröhlich. Es ist der 23. Januar 1959. Ein Abenteuer steht bevor, alle Teilnehmer sind gesund und guter Dinge. Die Skiwanderung soll ab Swerdlowsk über eine Strecke von 350 Kilometern gehen. 16 Tage sind dafür angesetzt. Durchgeführt wird die Tour vom Sportverein des Polytechnischen Instituts des Urals (UPI).
Die Strecke ist anspruchsvoll, führt über den Berg Otorten mit einer Höhe von 1235 Metern und den Cholat Sjachl (1097 Meter). Offiziell wird die Route mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad bewertet. Die letzte Nacht in der Zivilisation verbringt die Gruppe am 26. Januar 1959 in einer Waldarbeiter-Siedlung. Dann brechen die hochmotivierten Skiwanderer auf. Alle Teilnehmer sind zwischen 21 und 23 Jahre alt. Lediglich ein Teilnehmer ist älter: Semjon Solotarew, 38, ehemaliger Soldat und durchtrainierter Wanderführer.
Djatlow schreibt letzten Tagebucheintrag
Sie folgen dem Fluss Auspija rauf ins Gebirge, wollen noch am 31. Januar über den Gebirgspass ins Loswatal und dort ihr Nachtlager aufschlagen. Es kommt jedoch starker Wind auf. So stark, dass Igor Djatlow beschließt, umzudrehen und am nächsten Tag einen neuen Versuch zu starten.
Die Wanderer lassen sich am Fuß des Cholat Sjachl nieder. Es soll die letzte Nacht im Leben der Bergwanderer sein. Igor Djatlow macht seinen Tagebuch-Eintrag kurz vor dem Abendessen:
"Wir müssen ein Nachtlager suchen. Wir steigen südwärts ab ins Auspijatal. Das ist wohl die schneereichste Stelle. Erschöpft errichten wir das Nachtlager. Es gibt wenig Brennholz. Das Feuer machen wir auf Holzstämmen, keiner hat Lust, eine Grube zu graben. Abendessen im Zelt. Hier ist es warm…"
Draußen herrscht schneidende Kälte. Auf rund Minus 25 Grad Celsius sackt die Temperatur in dieser Nacht ab.
Abbruch der Tour bringt den Tod
Bis heute gibt es keine Erklärung dafür, warum die Gruppe am nächsten Tag nicht wie geplant über den Gebirgspass ins Loswatal weitergegangen ist. Der Pass ist nur 3,5 Kilometer lang. Trotzdem entschließen sich die Bergwanderer, ihr Zelt nach der Hälfte der Strecke am nordöstlichen Hang des Cholat Sjachl für die Nacht aufzubauen. Eine Entscheidung, die jedem in der Gruppe der Skitourengänger den Tod bringen wird.
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Doch obwohl die Expedition nicht wie angekündigt am 14. Februar 1959 in der Siedlung Wischai am gleichnamigen Fluss eintrifft, wird keine Rettungsaktion für die Skitourengänger gestartet. Bei einer Strecke von 350 Kilometern unter den vorherrschenden Wetterbedingungen wird von einer Verspätung ausgegangen. Erst am 21. Februar bricht nach Drängen der Familien der Vermissten der erste Suchtrupp auf – unter anderem mit Studierenden der UPI, die sich freiwillig gemeldet haben.
Zelt wurde von innen aufgeschnitten
Die Winterlandschaft im Ural-Gebirge ist unwegsam. Die Suchmannschaften haben keinen Anhaltspunkt, wo sie entlanggehen sollen. Dann, am 26. Februar, entdecken sie das verlassene Zelt der Gruppe. Es dauert zwei Monate, bis alle Leichen der vermissten Bergwanderer gefunden sind. Zunächst werden in der Nähe des zerschnittenen Zeltes unter der Neuschnee-Schicht fünf Tote gefunden. Darunter auch Igor Djatlow.
Bis heute stellen die vorgefundenen Umstände die Ermittler vor ein Rätsel. Unter anderem halten sie Folgendes fest:
- Der untere Teil des Zelteinganges war aufgeknöpft.
- Der hintere Teil des Zeltes war 20 Zentimeter hoch mit Schnee bedeckt.
- Auf dem Zeltdach lag eine funktionierende Taschenlampe – nicht mit Schnee bedeckt.
- Neben dem Zelt befanden sich Djatlows Windjacke und zwei im Boden steckende Skier.
- Die rechte Zeltwand war von innen aufgeschnitten. Die horizontalen Schnitte waren 31, 42 und 89 Zentimeter lang. Auf derselben Zeltseite gab es noch einen vertikalen Schnitt, der bis nach oben zum Zeltfirst reichte.
- Zudem waren zwei große Stoffstücke aus der Zeltwand gerissen.
- Spuren von Fußabdrücken führten hangabwärts zum nahegelegenen Wald, wurden aber nach gut 500 Metern vom frisch gefallenen Schnee überdeckt.
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Neun Leichen mit nur wenig Kleidung
Trotz der extremen Kälte zwischen Minus 25 und Minus 30 Grad und eisigem Wind, sind die gefundenen Toten kaum bekleidet. Manche der Skitourengänger tragen nur einen Schuh, andere wiederum haben nur Socken an. Vier später entdeckte Tote in einer Schlucht tragen nachweislich Kleidungsfetzen am Körper, die sie den anderen fünf Toten in der Nähe des Zeltes aus deren Kleidung geschnitten haben.
Die Obduktion ergibt, dass bei den vier zuerst entdeckten Leichen der Tod zwischen sechs und acht Stunden nach der letzten Mahlzeit eingetreten ist. Die gerichtsmedizinische Untersuchung der später gefundenen Opfer wirft weitere Rätsel auf – aber auch die Obduktion der zuerst entdeckten Vermissten. Insgesamt gibt es schwere Hautabschürfungen, Blutergüsse und Prellungen, gebrochene Rippen, eine fehlende Nasenspitze, fehlende Augen und Zungen bei den Toten in der Schlucht, ein Schädeltrauma durch eine stumpfe Waffe, sowie innere Blutungen, Erfrierungen an Fingern und Händen, Unterkühlungen und andererseits wiederum keinerlei Erfrierungsanzeichen bei einer der Leichen.
Brandverletzungen geben Rätsel auf
Die Gerichtsmediziner kommen zu dem Schluss, dass bei einer der weiblichen Teilnehmerinnen der Tod "durch einen gewaltsamen Unfall" infolge eines Sturzes auf einen harten Untergrund eingetreten ist. Einer der Vermissten hatte versengte Haare und eine Brandverletzung am linken Unterschenkel. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass gut 1,5 Kilometer vom beschädigten Zelt ein Lagerfeuer unter einer großen Tanne gefunden wurde. Hier lagen auch die zwei zuerst gefunden Opfer.
Mysteriös bleibt, warum an der Rinde dieser Tanne bis in mehrere Meter Höhe die Spuren von Haut- und Muskelgewebsspuren gefunden wurden. Die einzige Möglichkeit: Jemand ist den Baumstamm trotz fehlender Äste zum Halt hochgeklettert – vielleicht in großer Not. Belegt ist, dass alle gefundenen Opfer das Camp selbstständig, zu Fuß und aus eigener Kraft verlassen haben – auch die Verletzten.
Gebräunte Haut und graue Haare
Was auch immer der Djatlow-Gruppe passiert ist – für Spekulationen sorgt die Tragödie bis heute. So sollen Angehörige nach der Beerdigung ausgesagt haben, dass die Haut der Verstorbenen stark gebräunt war und die Haare komplett grau. Untersuchungen haben tatsächlich gezeigt, dass radioaktive Strahlung auf der Kleidung einiger Opfer war. Offiziell wird das mit ausgetretenem Thorium aus den Campinglampen begründet.
Lichterscheinungen am Djatlow-Pass
Andere Theorien bringen das Unglück mit UFO-Sichtungen in Verbindung. Selbst eine der Suchmannschaften gab zu Protokoll, dass sie am 31. März 1959 von ihrem Lager aus "am frühen Morgen eine leuchtende Kugel sahen, die sich gut zwanzig Minuten lang über den Himmel bewegte." Solche Sichtungen hatte es tatsächlich bereits im Februar 1959 in der Region gegeben. Wanderer hatten vom hellen Leuchten einer Rakete oder ein Geschoss" berichtet und einem darauffolgenden donnernden Geräusch.
Diese Aussagen haben zu Vermutungen geführt, die Djatlow-Gruppe sei vielleicht im Einschlagsgebiet einer Rakete gewesen, die zu Militärzwecken getestet wurde. Das sei auch die Erklärung für die radioaktive Strahlung. Dass das Gebiet nach dem Abschluss der Untersuchungen für drei Jahre gesperrt wurde, hat diese Theorie nicht unbedingt entkräftet. Andere wiederum meinen, dass ein Blitz in das Zelt der Ski-Wanderer eingeschlagen haben könnte oder ein Meteorit in direkter Nähe zu ihrem Zelt.
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Etwas befremdlich ist, dass die verunglückte Gruppe ihr Zelt ausgerechnet an der Flanke des Berges Cholat Sjachl aufgestellt hat – was übersetzt "Toter Berg" heißt. Der Name gründet sich auf einer Tradition der hier ansässigen Volksgruppe der Mansen. Sie haben in der Region seit Urzeiten eigene Totenstätten. Gerüchteweise soll die Djatlow-Gruppe auf dem Berg gewesen sein und Gräber durch die Mitnahme von Opfergaben entweiht haben – woraufhin die Mansen die Gruppe überfallen haben. Doch dafür gibt es keinen Beweis.
Alexej Rakitin spricht von eiskaltem Mord
Ein russischer Autor mit den Pseudonym Alexej Ratikin wiederum stellt in seinem Buch "Die Toten vom Djatlow-Pass" eine ganz andere Theorie auf. Er vermutet einen geplanten Mord durch den russischen Geheimdienst KGB. Drei der insgesamt neun Wanderer hätten radioaktives Strontium 90 auf der Kleidung gehabt, um die Probe an westliche Agenten zu übergeben – als falsche Spur im Auftrag des KGB.
Nachdem die Übergabe am Berg Cholat Sjachel nicht funktioniert hatte, sollte die gesamte Gruppe dann umgebracht werden und sterben – durch den Kältetod im Schnee. Sie seien gezwungen worden, sich der Kleidung zu entledigen. Einige der körperlich fitten Studenten hätten aber länger durchgehalten als gedacht. Diese seien dann mit Gewalt getötet worden. Als wahrscheinlicher wird die Theorie zweier Forscher angesehen, die schlichtweg eine Lawine als Grund für das Unglück vermuten.
Alexander Puzrin und Johan Gaume vermuten Schneebrettlawine
Als Alexander Puzrin (ETH Zürich) und Johan Gaume (ETH Lausanne) im Jahr 2021 mit dieser Vermutung an die Öffentlichkeit traten, konnte sie nicht ahnen, welche Lawine ihr Fach-Artikel im Magazin Nature lostreten sollte.
Die beiden Forscher Puzrin und Gaume haben schlichtweg berechnet, dass sich vom Hang über dem Zelt ein Schneebrett gelöst haben könnte – vor allem dadurch, dass die Skiwanderer ihr Zelt zum Schutz gegen das Wetter in eine Mulde eingegraben hatten. Damit hätten sie laut Puzrin und Gaume die Stabilität aus dem rückwärtigen Schnee genommen und weitere Schneefälle in der Nacht die Schneebrettlawine ausgelöst.
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Die Masse des abgehenden Schnees würde demnach auch die Knochenbrüche erklären, so die beiden Forscher. Medien auf der ganzen Welt berichteten über diesen Artikel und die Hypothese von Puzrin und Gaume. Die Anhänger von Verschwörungstheorien, UFOnauten und Fans von Mythen – immerhin wird sogar ein Angriff des Schneemenschen als Grund für den Tod der Djatlow-Gruppe vermutet – waren empört.
Lawine mit zwanzig Zentimeter Schnee auf Zelt?
Vielleicht zurecht: Wie kann auf einem Zelt, dass von einer Lawine verschüttet wird, selbst nach vier Wochen nur eine zwanzig Zentimeter hohe Schneeschicht liegen – und das ausschließlich auf dem hinteren Teil und nach dem anschließenden, wochenlangen Fall von Neuschnee? Es gibt also mehr Fragen als Antworten in der Tragödie, die im Nachgang für die Benennung des Djatlow-Passes im russischen Ural-Gebirge gesorgt hat.
Einen Menschen allerdings gibt es, den werden diese Fragen sein Leben lang wesentlich intensiver bewegt haben, als andere: Juri Judin. Der Wirtschaftsstudent war Teil der Djatlow-Gruppe und ursprünglich der zehnte Mann. Er wurde allerdings kurz nach dem Start der Extrem-Wanderung krank und musste umkehren. Der einzige Überlebende des Djatlow-Unglücks starb im Jahr 2013.
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Author: David Thompson
Last Updated: 1699538522
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